Strassenkinder
Istanbul. Leben auf der Straße.
Banu Aksu Fotografien
Was bedeutet Leben auf der Straße? Was kann es bedeuten? Aus dem Munde eines jungen Mannes namens Entel Ibo, der sich entschieden hat, auf der Straße zu leben, stammen die Worte, die Sie auf der Einladungskarte gelesen haben: „Wir sind ein Spinnennetz, das zerfetzt an einer Schnur hängt, auf den Blättern eines Baumes wie Tautropfen.“
Menschen, die auf der Straße leben, kommen einem zunächst vor wie Spinner. Die Weise wie sie reden, wie sie sich bewegen, was sie so tun, die Dinge, die ihnen wichtig sind, ihre Eigenheiten, ihre Macken. Doch wie das zerrissene Netz, das in der Luft schwingt, und die Spur eines Risses, eines zerrissenen Herzens bildet, haben sie auch etwas sehr Bewegendes an sich, etwas Berührendes, in diesem Leben ohne Fangnetz.
Sie sind ein zerrissenes Netz, das ephemer fast ätherisch wie eine hauchfeine Spur von Zigarettendunst in der Luft schwebt. Sie sind ein zerrissenes Netz, das an einer Schnur hängt, an einem seidenen Faden, einer Art Nabelschnur, die das zusammengefallene Netz noch mit dieser Welt verbunden hält.
Es mag sein, sie haben eine zerstörte Existenz. Es stört sie nicht. Sie nehmen es mit einem Achselzucken hin. Was zählt ist, daß sie doch jetzt, in diesem Augenblick leben, daß sie es bislang geschafft haben zu überleben. Und in dem Moment ist es äußerst beeindruckend, ihre Lebenskraft zu spüren, diese Kraft, die sie am Leben hält, obwohl dieses Leben ihn fast nichts zu geben hat.
Um wen handelt es sich in dieser Ausstellung? Wen hat Banu Aksu hier portraitiert? Es sind Straßenkinder – oder besser gesagt: Kinder der Straße. Denn die Straße hat sie erzogen, hat sie ihre Gesetze und Lebensregeln gelehrt. Und jeder, der freiwillig oder unfreiwillig durch diese Schule gegangen ist, wird in Istanbul so genannt.
Als Banu Aksu mich einlud, gemeinsam mit ihr nach Istanbul zu fliegen, weil sie eine Reportage über Straßenkinder machen wollte, dachte ich zunächst – wie die Bezeichnung Straßenkinder es natürlich nahelegt – an kleine Kinder und willigte ein. Wir hatten Kontakt aufgenommen mit einem türkischen Verein – Umut çocukları („Kinder der Hoffnung“) – und es stellte sich heraus, daß dieser Verein, der eine Tagesheimstätte leitet, keine Kinder, sondern erwachsene Männer betreut, die auf der Straße leben. Nun waren wir mit einer völlig neuen, unerwarteten Situation konfrontiert. Doch wurde genau das zu einem Vorteil.
Es ermöglichte jene Offenheit, die sich dort einstellt, wo man ohne Erwartungen unbekanntes Terrain betritt. Es war wie der neutrale Blick einer Kamera, die von einer liebevollen Hand geführt wird. So ist es Banu Aksu gelungen, Portraits zu machen, die klar und reduziert, still und sanft etwas vom Wesen dieser Menschen erblicken lassen. Vom Wesen, das sich behutsam öffnete, sich in den Gesprächen, die wir führten, vertrauensvoll entspannte und uns Einblicke gewährte, die nicht den gängigen Bildern oder Klischees entsprechen, die man für gewöhnlich im Kopf hat.
Ümit, abgebildet vor einer Wand mit arabischem Graffiti, ist 38 Jahre alt. Er lebt auf der Straße seit er 7 ist. Damals starb seine Mutter an gebrochenem Herzen, weil sein Vater sie wegen einer anderen Frau verließ. Sein Vater wollte ihn nicht bei sich haben und so war Ümit alleingelassen und landete auf der Straße. Mit tiefer Bitternis und Trauer erzählt er davon. So ein Riß kann nicht heilen, nicht einmal vernarben. Während andere Kinder zur Schule gingen und in ihren Taschen Bleistifte trugen, mußte Ümit lange Nägel bei sich tragen, um sich vor Übergriffen zu schützen. Mit Stolz erzählt er mir, daß er einen Mann – er nannte ihn nur Abschaum – in Notwehr getötet hat. Wir konnten ihm einmal tief in die lichtgrünen Augen schauen, sie sind gesprenkelt, als würde seine Iris all die körperlichen Verletzungen und seelischen Wunden widerspiegeln. Ich sah darin auch einen starken Willen zu leben und sich auszudrücken. Und das tut er, indem er Gedichte schreibt, Gedichte, die er an das Grab seiner Mutter trägt.
Während der Gespräche mit den Straßenkindern breitet sich oft eine Stille aus, eine Leere. Es gibt das Gute, es gibt das Böse in ihrem Leben und dazwischen diese Leere: eine Zeitspanne, in der der Kopf frei von Gedanken ist, das Herz frei von Emotionen, eine Zeit, die still steht und sich mit offenen Augen wie an der Tränke des Tiefschlafs erholt. In sich versunken folgen die Kinder der Straße einem Rhythmus, der sich mehr oder weniger stets wiederholt.
Ersin „Adanalı“ ist 38 Jahre alt und seit Jahren schon geht er jeden Tag stundenlang die immergleichen Straßen ab, er geht und geht und es erscheint wie eine unbewußt meditative Übung abzuschalten. Mit 10 Jahren ist er von zuhause, von Adana, abgehauen, aber er wollte nach Istanbul. Seine Augen leuchten, als er das erzählt. Er fand einen Weg und vom ersten Tag an lebte er auf der Straße, fand dort seine Freunde, sein zuhause. Jahrelang hat er in der „Höhle“, dem alten gewölbten Ziegelgemäuer geschlafen. Sein Bett gefedert mit Papierabfällen, seine Leidenschaft Tiere, besonders Hunde, die ebenso auf der Straße leben. Er schnüffelte, wie die meisten anderen Kinder, Klebstoff, die billigste Droge, doch jetzt fürchtet und verabscheut er den Rausch. Im Wahn hatte er sich selbst verstümmelt und verbrachte sechs Monate auf der Intensivstation. Die Schnittwunden am eigenen Leib erinnern ihn an die eisige Nähe des Todes. Der Leiter des Vereins hatte ihm damals geholfen, jetzt tut Ersin sein Bestes, um die Straßenkinder vom Schnüffeln abzuhalten. Er kümmert sich um sie, er hat ein gutes, warmes Herz, hilft wo er kann. Ihm verdanken wir den Kontakt zu den Kindern der Straße, er war die ganze Zeit wie ein schützender Begleiter an unserer Seite.
Viele Kinder, die das Schicksal auf die Straße stößt, begehen Selbstmord, wenn sie sich nicht mehr zu helfen wissen. Viele nehmen Rauschmittel, um die Kälte, den Hunger, die Schmerzen nicht mehr zu spüren. Sie nehmen Rauschmittel, denn nur so fällt die Scham von ihnen ab und sie können betteln, die Hände ausstrecken, fragen, fordern.
Zeytin („Olive“) ist 18 und eines der Sorgenkinder, das schnüffelt. Mit 8 Jahren lief er zum ersten Mal von zuhause weg, weil er geschlagen und mißhandelt wurde. Er kehrte zurück, lief wieder weg, mehrere Male, bis er endgültig auf der Straße blieb. Auch er ist ein Einzelgänger. Die Kinder der Straße treffen sich zwar und helfen sich gegenseitig aus, doch letztlich ist jeder auf sich allein gestellt. Zeytin schläft tagsüber in Parks, auf Bänken, in stillen Nischen. Er hat noch ein leicht verspieltes, kindliches Gemüt, doch das Straßenleben zieht unaufhaltsam tiefe Spuren in sein Gesicht. Ganz selten besucht er seine Mutter, und nur ganz kurz. Manchmal nimmt er Gelegenheitsjobs an. Die echten Straßenkinder halten viel darauf, nicht zu klauen. Sie grenzen sich scharf ab von den organisierten Straßenbanden, die betteln und auch stehlen. Mit dem Geld, das Zeytin bekommt, kauft er sich Zigaretten, etwas zu essen und Klebstoff. Darauf kann er nicht verzichten. Ebensowenig auf seine Freiheit.
In den Straßen, unter freiem Himmel fühlen sich die Straßenkinder frei. Ihre Freiheit ist ein Trost den Entbehrungen gegenüber, die sie erleiden. Ihre Freiheit ist aber auch ein Trotz den Menschen gegenüber, von denen sie verachtet und verletzt wurden und immer noch werden. Ihre Freiheit ist ihr Stolz und ihre Würde.
Entel Ibo, („der intellektuelle Ibo“) ist 26 und kommt aus einer gutsituierten Familie, der Vater erfolgreicher Geschäftsmann, die Mutter Hausfrau. Zuhause herrschte jedoch kein Frieden, sondern Jähzorn, Hysterie, Gewalt. Mit seinen Lehrern am Gymnasium kam er nicht zurecht, er setzte die Schule in Brand und verbrachte neun Monate in einer Innenanstalt. Danach lief er von zuhause fort und entschied, auf der Straße zu leben. Ein Leben ohne Vergangenheit und Zukunft, im Hier und Jetzt. Er denkt viel nach über die Menschen, über Gott, die Welt, das Leben. Er beobachtet, theoretisiert, poetisiert, schnippt mit den Fingern und hält sie wie eine Pistole an die Stirn. Worte können töten, das weiß er, sie können aber auch heilen und vergessen machen. Selbstvergessen geht Ibo in den Straßen einem ungekannten Ziel zu.
Das Leben auf der Straße spiegelt viele Facetten. Banu Aksu hat sie mit feinem Gespür abgelichtet. Auch in den Bildern – nackten Straßenszenen – die Sie unten sehen können: das nächtliche Istanbul mit seinen Straßen, in denen Lichtpunkte wie Irrlichter durch das Bild huschen, wie ein optischer Widerhall sich behauptender Existenzen.
Die Kinder der Straße lieben die Straße, sie ist wie ein Mutterersatz. Mit ihren offenen Armen, ihrem dunklen Schoß verspricht sie Geborgenheit, welche die Sehnsucht nach Angenommensein stillen könnte. Doch die Realität, das Leben auf der Straße ist hart wie Beton, kalt, unerbittlich, rücksichtslos, voll unberechenbarer Tücken und Gefahren. Die Kinder der Straße leben diesen extremen Gegensatz mit ihrer persönlichen Existenz, und insofern leben sie authentisch. Sie machen sich und anderen Menschen nichts vor. Das ist ihnen wichtig. Der Riß, der ihr ganzes Leben begleitet, ist ihre Prägung, sie verheimlichen ihn nicht. Sie sind wie sie sind.
Das ist ihre Reinheit. Das macht sie zu Tautropfen an den Blättern eines Baumes.